Rechtsfragen des § 8 Abs. 3 Hs. 2 Arbeitnehmerentsendegesetz — Einführung und Auslegung
Von Fachanwalt für Arbeitsrecht Jörg Hennig und Rechtsanwältin Anika Nadler, AMETHYST Rechtsanwälte Berlin
1. Einführung
Im Jahr 2009 hat das BAG entschieden, dass ein beim Entleiher als Maler eingesetzter Leiharbeitnehmer nur dann Anspruch auf den tariflichen Mindestlohn nach § 1 S. 3 der Dritten Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen im Maler- und Lackiererhandwerk vom 31. August 2005 i.V.m. § 8 Abs. 3 AEntG in der bis zum 13. August 2014 geltenden Fassung habe, wenn der Entleiher selbst dem betrieblichen Geltungsbereich dieser Verordnung unterfalle. In dem entschiedenen Fall handelte es sich bei dem Entleiher nicht um einen Maler- oder Lackierbetrieb, so dass der dort eingesetzte Leiharbeitnehmer leer ausging.
- §8 Abs. 3 AEntG in der bis zum 13. August 2014 geltenden Fassung verlange, dass für die Einbeziehung von Leiharbeitnehmern in den Geltungsbereich allgemeinverbindlicher Branchentarifverträge auch der fachliche Geltungsbereich dieser Tarifverträge eröffnet sei. Zwar erstrecken Mindestlohnverordnungen die Geltung von Tarifnormen auf nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer, setzten aber zugleich voraus, dass deren Arbeitsverhältnisse in den räumlichen, betrieblichen und persönlichen Geltungsbereich des Tarifvertrags fielen. Der betriebliche Geltungsbereich wiederum verlange die Branchenzugehörigkeit des Entleihers zur jeweiligen Branche. Setzte ein branchenfremder Betrieb z.B. aus der Gebäudereiniger-Branche Leiharbeitnehmer als Maler ein, fehle es an der Einschlägigkeit des fachlichen Geltungsbereiches des Tarifvertrages (BAG vom 21.10.2009, 5 AZR 951/08). Die Begründung des Gerichts überzeugte: Käme es nämlich allein auf “Tätigkeiten” aus dem Bereich des Maler- und Lackierergewerbes im Entleiherbetrieb an, ohne dass der Entleiher selbst dem Maler-und Lackiergewerbe zuzurechnen sei, führte dies zu einem Wertungswiderspruch, weil der Entleiherbetrieb an gewerbliche Arbeitnehmer, die bei ihm selbst angestellt sind, nicht den tariflichen Mindestlohn des Maler- und Lackiererhandwerks gewähren müsste, der Verleiher hingegen schon.
Da diese Rechtsprechung bei Zoll-Prüfungen zu praktischen Abgrenzungsschwierigkeiten führte, wurde § 8 Abs. 3 AEntG mit Inkrafttreten am 14. August 2014 (Bundesgesetzblatt 2014 Teil I Nr. 39 v. 14.08.2014, S. 1358) ein weiterer Halbsatz angefügt:
(3) Wird ein Leiharbeitnehmer oder eine Leiharbeitnehmerin vom Entleiher mit Tätigkeiten beschäftigt, die in den Geltungsbereich eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages nach § 4 Absatz 1 Nummer 1 sowie §§ 5 und 6 Absatz 2 oder einer Rechtsverordnung nach § 7 oder § 7a fallen, hat der Verleiher zumindest die in diesem Tarifvertrag oder in dieser Rechtsverordnung vorgeschriebenen Arbeitsbedingungen zu gewähren sowie die der gemeinsamen Einrichtung nach diesem Tarifvertrag zustehenden Beiträge zu leisten; dies gilt auch dann, wenn der Betrieb des Entleihers nicht in den fachlichen Geltungsbereich dieses Tarifvertrages oder dieser Rechtsverordnung fällt.
Nach dem Wortlaut der Bestimmung könnte die Haftung von Verleihern nun uferlos sein, denn der betriebliche Geltungsbereich ist in der Regel der entscheidende Aspekt bei der Prüfung, ob Tarifverträge anwendbar sind. Der örtliche Geltungsbereich ist bei Inlandseinsätzen bedeutungslos, während der persönliche Geltungsbereich zumeist uferlos gefasst wird und oft alle gewerblichen Arbeitnehmer (z.B. § 1 Abs. 3 Nr. 1 VTV-Bau) und sogar Angestellte (z.B. § 1 Abs. 3 Nr. 2 VTV-Bau) erfasst und somit konturlos bleibt. Auf den betrieblichen Geltungsbereich als einzig brauchbares Abgrenzungskriterium zu verzichten, nimmt der Norm also jeden Sinn.
Der Anwendungsbereich der Vorschrift ist groß: Es gibt derzeit allein neun allgemeinverbindliche Mindestlohnverordnungen/-tarifverträge. Hinzu kommen 443 für allgemeinverbindlich erklärte Branchentarifverträge, z.B. im Bau, auf die diese Konstellation zutrifft. Schließlich besteht die Beitragspflicht zu den gemeinsamen Einrichtungen, sofern diese sich auf allgemeinverbindliche Tarifverträge berufen können, insbesondere auch die Urlaubskasse der Bauwirtschaft (nachfolgend ULAK). (vgl. Bekanntmachung über die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags für das Baugewerbe (VTV) vom 4. Mai 2016, BAnz AT 09.05.2016 i.V.m. der Bekanntmachung über die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags für das Baugewerbe vom 6. Juli 2015, BAnz AT 14.07.2015 B1)
Anders als man meinen könnte, war die praktische Bedeutung dieser Norm im Arbeitsrecht dennoch bislang gering. Am 1. Februar 2018 hatte das ArbG Berlin (65 Ca 80100/17, n.v., n.rk.) — soweit ersichtlich — erstmals eine Konstellation zu entscheiden, in der es um die Bedeutung dieser Bestimmung ging. Die ULAK hatte gegen einen Verleiher Sozialkassenbeiträge geltend gemacht, war jedoch aus verschiedenen Gründen unterlegen. Das Urteil enthält zwar keine grundlegenden Aussagen zu der Problemstellung, bietet gleichwohl Anlass genug, einigen Einzelfragen zu § 8 Abs. 3 Hs. 2 AEntG nachzugehen. Dabei wird sich die Bearbeitung überwiegend auf die Beitragspflicht zu den Sozialen Einrichtungen (ULAK) im Rahmen des Verfahrenstarifvertrages (VTV-Bau) beschränken. Fragen der Verfassungskonformität des SOKASiG werden nicht behandelt (vgl. hierzu LAG Hessen vom 02.06.2017, 10 Sa 907/16); jedenfalls für Gegenwart und Zukunft wird zur Prüfung eine Rechtswirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung vom 6. Juli 2015 unterstellt.
2. Auslegungsschwierigkeiten bei 8 Abs. 3 Hs. 2 AEntG
Die Probleme der Neuregelung liegen auf der Hand.
1. Fehlender Zeitbezug
Nach dem Wortlaut des §8 Abs. 3 Hs. 2 AEntG müsste jede einzelne Arbeitsstunde, in der eine Tätigkeit ausgeübt wird, die einem Mindestlohntarifvertrag unterfällt, bereits zu einem Mindestlohnanspruch führen. So wäre streng genommen auch der überlassene Friseur, der abends den Friseursalon reinigt, in dieser einen Stunde nach dem Mindestlohn für Gebäudereiniger (Siebte Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen in der Gebäudereinigung (Siebte Gebäudereinigungsarbeitsbedingungenverordnung – GebäudeArbbV) vom 21.02.2018, BAnz AT 27.02.2018 V2) zu vergüten. Das Korrektiv für solche Zuordnungsprobleme stellt in allen übrigen Fällen das Erfordernis der Eröffnung des betrieblichen Geltungsbereiches dar: Sofern der Betrieb überwiegend Tätigkeiten einer Branche ausübt, werden alle (gewerblichen) Tätigkeiten dieses Betriebes der entsprechenden Branche zugerechnet, so dass es nicht zu Abgrenzungsschwierigkeiten bei der Bewertung einzelner Tätigkeiten kommen kann. Dabei kommt es nach ständiger Rechtsprechung des BAG auf ein kalenderjährliches Überwiegen der Arbeitsstunden an (BAG vom 23.08.1995, 10 AZR 105/95). Da es auf den betrieblichen Geltungsbereich des Tarifvertrages jedoch nicht mehr ankommen soll, wäre nun jedoch eine Zuordnung jeder Einzeltätigkeit vorzunehmen. Selbst wenn das gewollt wäre, können weder Verleiher noch Entleiher oder Aufsichtsbehörden eine so exakte Prüfung überhaupt vornehmen.
2. Fehlender Branchenbezug
Entfällt das Erfordernis der Geltung des betrieblichen Geltungsbereiches, lässt sich die Einschlägigkeit tariflicher Regelungen nur noch anhand des persönlichen Geltungsbereiches bestimmen. Dieser ist in aller Regel jedoch uferlos und erfasst häufig sämtliche Arbeitnehmer ungeachtet ihrer konkret ausgeübten Tätigkeit, selbst Angestellte (§ 1 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 2 VTV-Bau vom 3. Mai 2013 in der Fassung vom 3. Dezember 2013, 10. Dezember 2014 und 24. November 2015). Der persönliche Geltungsbereich des VTV-Bau wäre somit auch bei Friseuren eröffnet, folgte man allein der Definition des persönlichen Geltungsbereichs.
3. „Sowohl-als-auch“-Tätigkeiten
Dies führt zu dem nächsten Problem, nämlich den „Sowohl-als-auch“-Tätigkeiten der Gewerke u.a. des Baunebengewerbes gem. § 2 BaubetrV, in die eine Arbeitnehmerüberlassung zulässig ist. Beispiele sind diverse regelmäßig durch Malereibetriebe ausgeübte Tätigkeiten wie der Trockenbau (§ 2 Nr. 7 BaubetrV) sowie die Arbeit von Installateuren (§ 2 Nr. 6 BaubetrV). Diese Tätigkeiten unterfallen der Baudefinition des VTV-Bau (§ 1 Abs. 2 Abschn. I oder II VTV-Bau), sie können jedoch dem Geltungsbereich des VTV „entzogen“ werden (§ 1 Abs. 2 Abschn. VII Nr. 6 und Nr. 12 VTV-Bau), während die Leiharbeitnehmer beitragspflichtig blieben. Dies setzt voraus, dass der Einsatzbetrieb die branchenfremde Tätigkeit von Malern oder Installateuren zu mehr als 50% der Jahresarbeitszeit ausübt, wovon mindestens 20% qualifizierte, durch Gesellen ausgeübte oder durch Meister überwachte Fachtätigkeiten sein müssen (BAG vom 23.08.1005, 10 AZR 105/95).
4. Hilfstätigkeiten
Für die Gruppe der Hilfstätigkeiten gilt dasselbe wie für die „Sowohl-als-auch“-Tätigkeiten. Nach dem Wortlaut des § 8 Abs. 3 Hs. 2 AEntG sollen Beiträge fällig werden für alle Tätigkeiten, die unter den Geltungsbereich eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages fallen. Das aber sind wieder nicht nur die konkreten, gewerksbezogenen Tätigkeiten, sondern in der Regel alle gewerblichen Tätigkeiten, solange der Entleiher nur überwiegend einer Tätigkeit nachgeht, die eine Mindestlohn- oder Sozialkassenbeitragspflicht nach sich zieht. Somit würden z.B. auch Transport- und Reinigungsarbeiten als Hilfstätigkeiten (BAG vom 15.01.2014, 10 AZR 669/13) mangels eigenständigen Zwecks eine Beitrags- oder Mindestlohnpflicht nach sich ziehen, wenn man allein dem Wortlaut des Gesetzes folgte.
5. Ausnahmen zur Allgemeinverbindlichkeit
Insbesondere der VTV-Bau enthält in seiner Allgemeinverbindlicherklärung zur Regelung von Tarifkonkurrenzen zusätzliche Einschränkungen dieser Allgemeinverbindlichkeit (Bekanntmachung über die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags für das Baugewerbe (VTV) vom 4. Mai 2016, BAnz AT 09.05.2016 i.V.m. Bekanntmachung über die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags für das Baugewerbe vom 6. Juli 2015, BAnz AT 14.07.2015 B1, dort Einschränkungen der AVE). Diese Fälle bereiten besondere Probleme, denn es gibt Tätigkeiten, die immer dem Wortlaut des VTV unterfallen, wie z.B. Arbeiten des Metallbaus (Jedenfalls über das „Bauten aller Art erstellen (§ 1 Abs. 2 Abschn. I VTV-Bau) oder „Betriebe, die …der Erstellung, Instandhaltung….von Bauwerken dienen (§ 1 Abs. 2 Abschn. I VTV-Bau)), der Straßenbau (S. Fn. 16) oder auch der Abbruch (§ 1 Abs. 2 Abschn. II VTV-Bau „Beseitigung“). Für alle diese Tätigkeiten besteht jedoch die Besonderheit, dass der Entleiher sich der Anwendung des VTV und damit seiner Beitragspflicht rechtmäßig dadurch entziehen kann, dass er Mitglied in einem entsprechenden Facharbeitgeberverbande wird, und deshalb für das Beispiel „Metall“ gemäß der Nr. 1 Abs. 1 und Abs. 2 AVE-Einschränkung vom 06.Juli 2015 (Bekanntmachung vom 14. Juli 2015, BAnz AT 14.07.2015 B1, S. 1) zum VTV-Bau von allen Zahlungspflichten an Sozialkassen befreit wäre. Für einen Leiharbeitnehmer, der für dieses Unternehmen tätig ist und z.B. Rohre verlegt, bestünde gleichwohl die Beitragspflicht zur ULAK.
6. Störung des Äquivalenzprinzips bei Sozialkassenbeiträgen
Fälle einer Beitragspflicht der Kundenunternehmen zur ULAK kommen in der Arbeitnehmerüberlassung relativ selten vor, weil die Arbeitnehmerüberlassung in den Baubereich grundsätzlich unzulässig ist (§ 1b S. 1 AÜG) und die erlaubte Arbeitnehmerüberlassung zwischen Baubetrieben die Beitragspflicht zur ULAK zwingend voraussetzt (§ 1b S. 2 AÜG), so dass sich das Problem von Mindestlohn und Beitragspflicht dann nicht stellt. Bei Tätigkeiten, die an sich Bautätigkeiten darstellen, jedoch nicht bei einem Entleiher als Baubetrieb ausgeübt werden und daher nach den Regelungen des AÜG zulässig sind, entstünde, wie bereits gezeigt, eine Beitragspflicht zu den Sozialkassen, wenn es auf den betrieblichen Geltungsbereich des Entleihers nicht ankäme. Ansprüche des Leiharbeitgebers gegen die ULAK auf Vergütung von gezahltem Urlaub bestehen dennoch nicht, obwohl der Verleiher beitragspflichtig ist. Hierin liegt eine massive Störung des Äquivalenzprinzips, wonach es zwar zulässig ist, bei versicherungsrechtlichen Leistungen Einschränkungen oder eine andere Berücksichtigung von Leistungen vorzunehmen, diese einem Beitragszahler jedoch nicht vollständig vorzuenthalten. Wer Beiträge zahlt, ohne jemals einen Anspruch auf eine Gegenleistung zu erhalten, wird diese Norm daher auch aus verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten in Frage stellen. (BVerfG vom 07.10.2008, 1 BvR 2995/06; BVerfG vom 18.02.1998 — 1 BvR 1318/86)