Rechtsfragen des § 8 Abs. 3 Hs. 2 Arbeitnehmerentsende­gesetz II — Meinungsstand

3. Meinungsstand

Aktuelle Recht­sprechung zur Frage der Reich­weite der Norm in der aktuellen Fas­sung existiert nicht. Das Hes­sis­che Lan­desar­beits­gericht hat am 15.08.2014 zwar (nach Inkraft­treten der Änderung des AEntG) entsch­ieden , dass für Per­sonal­dien­stleis­ter keine Beitragspflicht zur ULAK beste­he, sofern nicht beim Entlei­her der betriebliche Gel­tungs­bere­ich des VTV-Bau eröffnet sei. Allerd­ings ist diese Recht­sprechung trotz des späteren Datums noch zur alten Recht­slage ergangen.
Die Kom­men­tar­lit­er­atur geht auf diese Frage oft­mals nicht ein. Bayreuther spricht sich bei dem Kern­prob­lem der Branchen­zuord­nung ein­er Tätigkeit für das Erforder­nis eines zeitlichen Über­wiegens dieser Tätigkeit aus.
Der Zoll nimmt eben­falls Ein­schränkun­gen hin­sichtlich der Tätigkeit und des Zeit­bezuges vor:
Für die Ermit­tlung, ob der Lei­har­beit­nehmer mit Tätigkeit­en beschäftigt wird, die in den Gel­tungs­bere­ich eines für all­ge­mein­verbindlich erk­lärten Tar­ifver­trages im Sinne der §§ 3, 4 Abs. 1 Nr. 1, 5 und 6 Abs. 2 AEntG oder ein­er Rechtsverord­nung nach den §§ 7, 7a oder 11 AEntG falle, ist die Def­i­n­i­tion bzw. die Beschrei­bung der Tätigkeit­en in den jew­eili­gen Tar­ifverträ­gen oder Min­dest­lohn­verord­nun­gen her­anzuziehen. Soweit diese keine Def­i­n­i­tio­nen der branchen­typ­is­chen Tätigkeit­en enthal­ten, sind die Tar­ifverträge bzw. Min­dest­lohn­verord­nun­gen tätigkeits­be­zo­gen auszulegen…..
Und zum Zeit­bezug wird, noch etwas konkreter als bei Bayreuther, ein monatlich­es Zeitüber­wiegen vorausgesetzt.
Wer­den während ein­er Über­las­sung ver­schiedene Tätigkeit­en aus­geübt, die dem Gel­tungs­bere­ich unter­schiedlich­er Tar­ifverträge oder Min­dest­lohn­verord­nun­gen unter­liegen, ist zur Ermit­tlung des Min­dest­lohnes das (rel­a­tive) Über­wiegen­sprinzip im Rah­men des Fäl­ligkeit­szeitraums (in der Regel der Kalen­der­monat) anzuwen­den. Das heißt, bei unter­schiedlichen Tätigkeit­en ist für die gesamte Arbeit­sleis­tung der Min­dest­lohn zu zahlen, der für diejenige Tätigkeit fest­gelegt ist, die gemessen an der Anzahl der in dem Fäl­ligkeit­szeitraum erbracht­en Arbeitsstun­den im Ver­hält­nis zu den Arbeitsstun­den der anderen Tätigkeit­en (rel­a­tiv) überwiegt.
Soweit während ein­er Über­las­sung Tätigkeit­en erbracht wer­den, die nur teil­weise dem Gel­tungs­bere­ich ein­er Min­dest­lohn­verord­nung unter­fall­en, richtet sich die Frage, ob der Min­dest­lohn auf Grund­lage der Min­dest­lohn­verord­nung zu zahlen ist, eben­falls nach dem rel­a­tiv­en Über­wiegen­sprinzip. Das heißt, soweit der Lei­har­beit­nehmer in dem Fäl­ligkeit­szeitraum über­wiegend mit Tätigkeit­en beschäftigt ist, die kein­er Min­dest­lohn­verord­nung unter­fall­en, richtet sich der Lohnanspruch nicht nach § 8 Abs. 3 AEntG, da in diesem Fall keine min­dest­lohnpflichtige Tätigkeit im Sinne des AEntG überwiegt.
Indes lassen sich mit diesen wün­schenswerten Ein­schränkun­gen nicht alle Fra­gen befriedi­gend lösen, zumal sie sich nicht in die Recht­sprechung des BAG zum Zeitüber­wiegen ein­fü­gen, die immer das Kalen­der­jahr als Bezugspunkt nimmt.

IV. Lösungsvorschlag

Nach der Geset­zes­be­grün­dung ist Sinn und Zweck der im Jahr 2014 in Kraft getrete­nen Änderung allein, der bis zum Jahr 2009 gel­tende Zoll­prax­is wieder Gel­tung zu ver­schaf­fen, wonach es bei der Prü­fung, ob Lei­har­beit­nehmer dem Gel­tungs­bere­ich des Arbeit­nehmer­entsendege­set­zes unter­fall­en, allein auf die Tätigkeit des Arbeit­nehmers und nicht auf den betrieblichen Gel­tungs­bere­ich des Tar­ifver­trages ankam:

Die Änderung stellt klar, dass es für die Verpflich­tung des Ver­lei­hers zur Gewährung der vorgeschriebe­nen Arbeits­be­din­gun­gen allein auf die von Lei­har­beit­nehmern oder Lei­har­beit­nehmerin­nen aus­geübte Tätigkeit ankommt. Der Betrieb des Entlei­hers selb­st muss nicht dem fach­lichen Gel­tungs­bere­ich eines für all­ge­mein­verbindlich erk­lärten Tar­ifver­trages oder ein­er Rechtsverord­nung unter­fall­en. Die Regelung ver­hin­dert eine Umge­hung der über das Arbeit­nehmer-Entsendege­setz fest­ge­set­zten Arbeits­be­din­gun­gen durch den Ein­satz von Lei­har­beit­nehmern und Lei­har­beit­nehmerin­nen. Die Geset­zesän­derung entspricht der Prax­is der Kon­troll­be­hör­den bis zur Entschei­dung des Bun­de­sar­beits­gerichts vom 21. Okto­ber 2009 (BAG vom 21. Okto­ber 2009, 5 AZR 951/08).

Auch wenn nach der Geset­zes­be­grün­dung genau diese Recht­sprechung nicht mehr gel­ten und stattdessen die früher geübte Prax­is, die allein auf die Tätigkeit der einge­set­zten Arbeit­nehmer abstellt, wieder einge­führt wer­den soll, kann eine ein­schränk­ende Ausle­gung zwar schwierig sein, denn der Begrün­dung, die auf die Tätigkeit abstellt, fehlt jed­er Branchen­bezug. Dass eine so weit gehende Ausle­gung nicht gemeint sein kann, liegt jedoch angesichts der aufgezeigten Prob­leme auf der Hand.
Zur Lösung bietet es sich an, den per­sön­lichen Gel­tungs­bere­ich des VTV um eine betriebliche Kom­po­nente anzure­ich­ern, näm­lich den Gewer­be­bezug. Um nicht über den Gewer­be­bezug das Merk­mal des betrieblichen Gel­tungs­bere­ichs – con­tra leg­em – wieder einzuführen, muss es hier­bei, anders als bei der konkret betrieb­s­be­zo­ge­nen Betra­ch­tung, um eine typ­isierende Wer­tung gehen, dahin, ob diese Tätigkeit­en für ein bes­timmtes Gewerbe typ­isch oder rechtlich also solche einzuord­nen sind. Denn sich­er wird man eine Gren­ze der Anwend­barkeit des § 8 Abs. 3 Hs. 2 AEntG in Fällen ziehen müssen, in denen es sich nicht typ­is­cher­weise um Bautätigkeit­en han­delt, die aus­nahm­sweise in einem anderen Kon­text aus­geübt wer­den, son­dern um Tätigkeit­en, die nicht zufäl­lig, son­dern typ­is­ch­er Weise in Ein­satz­be­trieben ander­er Branchen / Gewer­ben aus­geübt wer­den. Anders wäre eine Abgren­zung zu Branchen mit konkur­ri­eren­den Tar­ifverträ­gen und auch eine Berück­sich­ti­gung der AVE-Aus­nah­men nicht möglich. In diesem Fall würde man die Zuord­nung dann nach der Regel vornehmen, dass eine Tätigkeit, die typ­is­cher­weise in einem branchen­frem­den Betrieb erbracht wird, allen­falls zu ein­er Beitragspflicht in dort existieren­den Sozialka­ssen oder zu entsprechen­den Min­dest­lohn­verpflich­tun­gen führen kann.
Damit wer­den Hil­f­stätigkeit­en (Trans­port, Beräu­mung, Reini­gung, Lager) immer den Haupt­tätigkeit­en zugerech­net. Eine beitragspflichtige Hil­f­stätigkeit beste­ht jedoch erst, wenn die beim Entlei­her zeitüber­wiegend aus­geübten Haupt­tätigkeit­en als Baugewerbe beitragspflichtig wären. Dann aber beste­hen auf­grund der Ver­wirk­lichung der Merk­male des betrieblichen Gel­tungs­bere­ich­es des ein­schlägi­gen Tar­ifver­trages ohne­hin Min­dest­lohn- und Beitragsverpflich­tun­gen. Es würde sich nichts ändern.
„Sowohl-als-auch“-Tätigkeiten sind nur dann min­dest­lohn- und beitragspflichtig, wenn sich unter Anwen­dung der durch die Recht­sprechung entwick­el­ten Zuord­nungs­grund­sätze eine entsprechende Gewer­bezuord­nung vornehmen lässt.
Und auch die AVE-Aus­nah­men lassen sich über den Gewer­be­bezug berück­sichti­gen: Gilt eine AVE-Aus­nahme, liegt im Rechtssinne kein ein­schlägiger Gewer­be­bezug vor, selb­st, wenn der betriebliche Gel­tungs­bere­ich des Tar­ifver­trages nach seinem Wort­laut eröffnet ist.
Ein Hin­weis darauf, dass diese Ausle­gung recht­skon­form ist, lässt sich der Entschei­dung des BAG vom 21.10.2009 ent­nehmen, in der das Gericht eben­falls den Begriff des „Gewerbes“ ins Spiel bringt. Hier heißt es nämlich:

Käme es dage­gen, wie der Kläger meint, allein auf “Tätigkeit­en” aus dem Bere­ich des Maler- und Lack­ier­ergewerbes im Entlei­her­be­trieb an, führte dies zu einem Wer­tungswider­spruch, weil der Entlei­her­be­trieb an gewerbliche Arbeit­nehmer, die bei ihm selb­st angestellt sind, nicht den tar­i­flichen Min­dest­lohn des Maler- und Lack­ier­erhandw­erks gewähren müsste.

Das BAG zitiert (lei­der nur im Sachver­halt) den dor­ti­gen Kläger, der meint, es käme allein auf Tätigkeit­en aus dem Bere­ich des Maler- und Lack­ier­ergewerbes an, und lehnt diese Auf­fas­sung mit dem Argu­ment ab, es komme auch darauf an, dass der betriebliche Gel­tungs­bere­ich des Tar­ifver­trages eröffnet sei. Genau diese Recht­sprechung wollte der Geset­zge­ber durch die Neu­fas­sung des § 8 Abs. 3 AEntG been­den und die bish­erige Rechts- und Ver­wal­tung­sprax­is, wonach es nur auf Tätigkeit­en aus diesem Gewerbe ankomme, erneut Gel­tung ver­schaf­fen. Damit geht es aber nicht um die Tätigkeit­en als solche, wie der Wort­laut von § 8 Abs. 3 Hs. 2 AEntG ver­muten ließe, son­dern nur um solche, die auch dem jew­eili­gen Gewerbe zuzurech­nen sind.
Die vorgeschla­gene Ein­schränkung kann auch nach Sinn und Zweck des § 1 AEntG vorgenom­men werden:

Ziele des Geset­zes sind die Schaf­fung und Durch­set­zung angemessen­er Min­destar­beits­be­din­gun­gen für grenzüberschreitend entsandte und für regelmäßig im Inland beschäftigte Arbeit­nehmer und Arbeit­nehmerin­nen sowie die Gewährleistung fair­er und funk­tion­ieren­der Wet­tbe­werb­s­be­din­gun­gen durch die Erstreck­ung der Recht­snor­men von Branchentarifverträgen. Dadurch sollen zugle­ich sozialver­sicherungspflichtige Beschäftigung erhal­ten und die Ord­nungs- und Befriedungs­funk­tion der Tar­i­fau­tonomie gewahrt werden.

Hier­für genügt der Gewer­be­bezug der Tätigkeit­en, ohne dass es auf den betrieblichen Gel­tungs­bere­ich des VTV ankommt.