Homeoffice — Interview mit RA Jörg Hennig

NJW: Arbeit­nehmer ste­hen unter dem Schutz der geset­zlichen Unfal­lver­sicherung. Wie sieht dieser Schutz beim Home­of­fice aus?

Jörg Hen­nig: Grund­sät­zlich besitzen alle Arbeit­nehmer Ver­sicherungss­chutz in Zeit­en, in denen sie ihrer beru­flichen Tätigkeit nachge­hen, sowie auf dem Weg, um den Arbeit­splatz zu erre­ichen. Das gilt generell an jed­er Arbeitsstätte, also im Betrieb, auf Mon­tage und auch im Home Office. Allerd­ings war es schon immer Auf­gabe der Gerichte, eine saubere Abgren­zung zum nicht ver­sicherten Pri­vat­bere­ich zu find­en. Denn so notwendig und sin­nvoll der Schutz der Unfal­lver­sicherung ist, muss der Leis­tungs­bere­ich beschränkt bleiben, damit die Beiträge nicht ins ufer­lose steigen. Darüber herrscht all­ge­mein­er Konsens.

Das Bemühen, den Pri­vat­bere­ich vom Ver­sicherungss­chutz auszuschließen, zeigt  sich u.a. bei „Wege­un­fällen“, bei denen der Schutz erst hin­ter der eige­nen Haustür begin­nt und bere­its dann, wenn der Arbeit­nehmer nur äußerst ger­ingfügig von seinem Weg abwe­icht, nicht mehr. Noch zu Beginn dieses Jahres hat das BSG zum Beispiel einem Arbeit­nehmer den Ver­sicherungss­chutz ver­sagt, der auf dem Weg zur Arbeit ins Auto steigen und zuvor nur noch ein­mal kurz die Straße auf Eis­glätte über­prüfen wollte, dabei stürzte und sich sein Bein brach. Das, so mein­ten die Richter, sei bere­its Pri­vat­sache (v. 23.1.2018 – B 2 U 3/16). Dieser Gedanke set­zt sich beim Home Office fort. Ja, es beste­ht grund­sät­zlich Ver­sicherungss­chutz, in der Mehrzahl der Einzelfälle jedoch nicht, da entwed­er die pri­vate Hand­lung­s­ten­denz im Vorder­grund ste­ht oder sich das Gegen­teil jeden­falls nicht beweisen lässt.

NJW: Weshalb sind die Sozial­gerichte bei der Anerken­nung von Unfällen im Home­of­fice so restriktiv?

Jörg Hen­nig:  In der Tat tun sich Gerichte mit der Anerken­nung von Ver­sicherungs­fällen im Home Office schw­er. In sein­er — nach fast 10 Jahren — ersten Entschei­dung aus dem Jahr 2016 zu diesem The­ma (v. 5.7.2016 – B 2 U 5/15 R) lässt das BSG auch ganz unverblümt erken­nen, warum das so ist: solange die Ver­sicherungsträger keinen Zugang zur Arbeitsstätte im Home Office besitzen, lassen sich wed­er die Ein­hal­tung von Arbeitssicher­heits­stan­dards über­prüfen noch die Unfal­lur­sache konkret ermit­teln. Das nahm das BSG zum Anlass, im Jahr 2016 den Ver­sicherungss­chutz weit­ge­hend zu ver­sagen, jeden­falls für sämtliche „Wegun­fälle“ inner­halb der eige­nen Woh­nung wie den Sturz auf ein­er Treppe in diesem Urteil.

Allerd­ings kann das BSG auch nicht völ­lig gegen den Trend urteilen. Bei ein­er steti­gen Zunahme von Tätigkeit­en im Home Office kann ein pauschaler Auss­chluss des Ver­sicherungss­chutzes heute nicht die Lösung aller Prob­leme sein. Das BSG sieht das offen­bar genau­so, wie man den Pressemel­dun­gen zu den Entschei­dun­gen vom 27.11.2018 (B 2 U 8/17 R und B 2 U 28/17 R) ent­nehmen kann. Schon in der Entschei­dung aus dem Jahr 2016 hat­te es Ver­sicherungss­chutz für möglich gehal­ten, wenn sich Wohn- und Arbeit­sräume zwar getren­nt voneinan­der, jedoch inner­halb des­sel­ben Gebäudes befind­en.  Auf diesem Weg schre­it­et das Gericht nun voran. Es bejaht Ver­sicherungss­chutz in diesen  Fällen grund­sät­zlich, legt es den Arbeit­nehmern allerd­ings auf, konkret darzule­gen, dass tat­säch­lich ein Arbeit­sun­fall vorgele­gen hat.

NJW: Stich­wort Ver­sicherungslück­en: Wie kön­nen diese entste­hen? Jed­er Arbeit­nehmer ist doch krankenversichert.

Jörg Hen­nig: Tat­säch­lich wird das The­ma „Ver­sicherungslück­en“ in der Prax­is etwas über­stra­paziert. Nicht nur in Recht­skreisen wird schnell der Ver­lust von Ver­sicherungss­chutz besorgt; auch in Gesprächen mit Arbeit­ge­bern und Arbeit­nehmern stellt man immer wieder eine dif­fuse Angst hier­vor fest. Dabei haben wir in Deutsch­land ein rel­a­tiv lück­en­los­es Schutzsys­tem: Die Kranken­ver­sicherung zahlt bei Krankheit und Ver­let­zung grund­sät­zlich immer, unab­hängig davon, ob ein Bezug zum Arbeitsver­hält­nis beste­ht. Die Abgren­zung der Leis­tungspflicht­en geschieht im Stre­it­fall zwis­chen den Leis­tungsträgern, ohne dass die Betrof­fe­nen hier­von beson­ders viel mit­bekom­men. Den­noch „lohnt“ es sich für Unfal­lopfer schon, wenn bei einem Unfall die BG zuständig ist. Denn die Leis­tun­gen der BG sind bess­er als die der geset­zlichen Krankenkassen: Bei Arbeit­sun­fällen wer­den höhere Aufwände für Behand­lung- und Reha­bil­i­ta­tion als in der GKV erstat­tet, es gibt Renten­zahlun­gen, Leis­tun­gen für Hin­terbliebene und auch das Ver­let­zten­geld nach dem SGB VII ist jeden­falls formell höher als das Kranken­geld der Krankenkassen. Ger­ade die Rente­nansprüche bei schw­eren Unfällen bedeuten natür­lich einen erhe­blichen Vorteil; bei leichteren Unfällen ist es aus Sicht der Geschädigten dage­gen rel­a­tiv egal, ob es sich um einen Arbeits- oder um einen Unfall aus dem Pri­vat­bere­ich handelt.

NJW: Inwiefern kann sich aus Ver­sicherungslück­en eine Haf­tungs­falle für den Arbeit­ge­ber entwickeln?

Jörg Hen­nig: Hier herrscht noch ter­ra incog­ni­ta. Grund­sät­zlich haben Arbeit­ge­ber gegenüber ihren Arbeit­nehmern Schutzpflicht­en, die auch Aufk­lärungspflicht­en umfassen. Wenn der Ver­sicherungss­chutz von Arbeit­nehmern im Home Office wesentlich weniger umfassend als am Arbeit­splatz ist, und der Arbeit­nehmer auf Ver­an­las­sung des Arbeit­ge­bers dort arbeit­et, käme ein Anspruch gegen den Arbeit­ge­ber aus § 670 BGB oder auch aus § 280 BGB in Betra­cht, im let­zteren Fall deshalb, weil der Arbeit­ge­ber den Arbeit­nehmer hierüber nicht aufgek­lärt hat; im erst­ge­nan­nten Fall schon deshalb, weil der Arbeit­nehmer bei Ausübung ein­er Tätigkeit einen Eigen­schaden erlit­ten hat. Zwar ist in der Unfal­lver­sicherung der Rück­griff auf den Arbeit­ge­ber ges­per­rt (§ 104 SGB VII), hier kann es durch die fehlende Ein­heit der Rechts­be­griffe jedoch zu Ver­schiebun­gen kom­men. Ein Eigen­schaden aus § 670 BGB liegt vor und zugle­ich greift die Sperre des § 104 SGB VII nicht mehr, weil die Def­i­n­i­tio­nen des Arbeit­sun­falls sich im Arbeits- und im Sozial­recht auseinan­der entwick­eln. Jeden­falls wer vor­sichtig ist, sorgt für entsprechen­den (pri­vat­en) Ver­sicherungss­chutz bei den eige­nen Arbeit­nehmern vor.

Noch ungelöst ist auch das die rechtliche Behand­lung  des Mobile Office, welch­es das Home Office immer mehr ver­drängt. Stich­wort „Ent­gren­zung“: In unser­er Beratung­sprax­is haben wir es immer mehr mit „Dig­i­tal­no­maden“ zu tun, die selb­st entschei­den, wann, wie, und von welchem Ort in der Welt sie arbeit­en. Ist der Arbeit­ge­ber damit nicht ein­ver­standen, ziehen diese Per­so­n­en ein­fach weit­er zum näch­sten Arbeit­ge­ber. Mit der Frage, ob hier Ver­sicherungss­chutz beste­ht, wird sich die Jus­tiz noch zu beschäfti­gen haben. Denn auch im Café auf den Male­di­v­en kann man aus­rutschen und sich dabei den Kopf stoßen, während man eigentliche dien­stlich am Note­book sitzt. In solchen Fällen mag die Recht­sprechung Ver­sicherungss­chutz ablehnen; aber wo ver­läuft die Gren­ze? Wie ist es z.B., wenn die Ver­let­zung am Flughafen passiert, von dem der Arbeit­nehmer zu ein­er Tagung in Deutsch­land reisen möchte, diese jedoch mit pri­vat­en Zweck­en verbindet? Von der wirk­lichen Ent­gren­zung etwa im IT-Bere­ich, bei der die Arbeit­nehmer pri­vat als Hob­by genau das­selbe machen wie im Beruf, z.B. an Open-Source-Pro­jek­ten zu arbeit­en, wollen wir noch gar nicht reden.

NJW: Nun hat das BSG Ende Novem­ber in zwei Fällen entsch­ieden, dass ein Sturz im Home­of­fice ein Arbeit­sun­fall sein kann. Haben diese Judikate den Unfal­lver­sicherungss­chutz von Arbeit­nehmern gestärkt bzw. die Haf­tung des Arbeit­ge­bers entschärft?

Jörg Hen­nig: Das Bun­dessozial­gericht hat tat­säch­lich erst­mals Ver­sicherungss­chutz auf Wegen im Home Office für möglich gehal­ten. Die Entschei­dun­gen haben damit sicher­lich die Rechte der Arbeit­nehmer gestärkt. Allerd­ings sind die Gründe noch nicht veröf­fentlicht, weshalb Vor­sicht ange­bracht ist. Ob die Entschei­dung den Arbeit­nehmern nur Steine statt Brot gibt, weil sich der Beweis des berufs­be­zo­ge­nen Hand­lungszwecks nicht erbrin­gen lässt, bleibt zudem abzuwarten. Da die Wege, die sich auss­chließlich inner­halb der eige­nen Woh­nung befind­en, nach wie vor nicht erfasst sind, bleibt der Schutz zudem auf nur wenige Fall­grup­pen beschränkt.

NJW: „Vor Gericht und auf hoher See…“ – man hat den Ein­druck, dass dieses Sprich­wort ins­beson­dere vor den Sozial­gericht­en und im Zusam­men­hang mit der Frage gilt, ob ein Unfall ein Arbeit­sun­fall ist oder nicht. Wie sehen Sie das?

Jörg Hen­nig: Das mag man schon so sehen. Natür­lich haben es die Gerichte auch nicht ein­fach, das Leben ist kom­plex und wan­delt sich zu schnell, um zügig saubere Abgren­zungs­for­men zu entwick­eln. Beim Home Office kann man noch wenig sagen, da die Recht­sprechung hier erst am Anfang ste­ht und noch nicht aus­d­if­feren­ziert ist.

NJW: Gibt es gle­ich­wohl so etwas wie einen roten Faden in dieser Rechtsprechung?

Jörg Hen­nig: Immer­hin gibt es ein klares Prüf­schema mit mehreren Schrit­ten, das sich bewährt hat. Die Auseinan­der­set­zung find­et in der Regel nur im Rah­men der Sub­sum­tion einzel­ner Merk­male statt. Das ist schon mal was und ist im Ver­gle­ich zu anderen Bere­ichen, wie zum Beispiel der Frage, ob „Free­lancer“ selb­st­ständig oder ver­sicherungspflichtig beschäftigt sind, jeden­falls pos­i­tiv. Denn bei Free­lancern fehlt für die Prax­is jede Ori­en­tierung. Möglicher­weise wäre es sog­ar aus Grün­den der Rechtssicher­heit und Recht­sklarheit wieder erwä­genswert gewe­sen, Unfälle im Home Office generell vom Ver­sicherungss­chutz auszuschließen oder eine völ­lig neue, über­greifende Ver­sicherung zu entwick­eln. Aber das ist eher ein The­ma von morgen …

NJW: Wir hat­ten ein­gangs über die Haf­tungs­falle gesprochen, die Arbeit­ge­bern dro­hen, wenn ein Arbeit­nehmer im Home­of­fice verun­fallt. Wie lässt sich die vermeiden?

Jörg Hen­nig: Aufk­lärung und zusät­zlich­er pri­vater Ver­sicherungss­chutz, das scheinen die Gebote der Stunde zu sein. Der Trend zum Home-Office ist nicht aufzuhal­ten, disku­tiert wird ja sog­ar ein Recht­sanspruch darauf, der in den Nieder­lan­den bere­its geset­zlich ver­ankert ist. Deshalb scheint es keine beson­ders gute Idee zu sein, die Tätigkeit im Home Office allein aus Grün­den des nicht ein­deuti­gen Ver­sicherungss­chutzes zu untersagen.