Der Einsatz von Freelancern IV — Einbindung und Vor-Ort-Tätigkeit
Einbindung und Vor-Ort-Tätigkeit
1. Bedeutung des Merkmals
Der Tätigkeit vor Ort als Merkmal für die Einbindung in die Organisation des Arbeitgebers wird durch die Rechtsprechung eine extrem große Bedeutung beigemessen, zumal, wenn diese Tätigkeit im Rahmen eines selbstständigen Dienstvertrages statt eines Werkvertrages erfolgt. Denn auch wenn man den Dienstvertrag mit der erfolgsunabhängigen Vergütung als selbstständige Vertragsform akzeptiert (womit sich Gerichte oft schwer tun), ist es mit der Annahme einer rechtlichen Selbstständigkeit der Betroffenen bei Arbeiten im Kundenbetrieb nicht weit her. Denn gerade die Teameinbindung als Folge der Tätigkeit vor Ort, die über eine bloße gelegentliche Abstimmung hinausgeht, wird als wesentliches Argument gegen die Selbstständigkeit gewertet, da der Mitarbeiter mit seiner Tätigkeit dann beim Auftraggeber eingegliedert ist und seine Leistungen „im Rahmen einer von seinem Vertragspartner bestimmten Arbeitsorganisation“ erbringt (vgl. Bayerisches LSG 13.11.2008 – L 5 KR 50/07).
Etwas überraschen mag daher die Aussage des BAG im Todesradfall, die Artisten seien hinsichtlich Zeit, Dauer, Art und Ort ihrer Tätigkeit frei gewesen und somit nicht in die Organisation ihres Auftraggebers eingebunden. Sie ist im Hinblick auf das Direktionsrecht allerdings korrekt: Denn die Einschränkungen durch konkrete Veranstaltungstermine räumen der Auftraggeberin gerade kein Recht ein, diese Aspekte über projektbezogene Vorgaben hinaus zu konkretisieren. Und generell sind Klauseln, wonach etwa „projektbezogene Zeitvorgaben“ einzuhalten seien, für freie Dienstverträge iSd. § 611 BGB nicht untypisch (BAG 11.8.2015 – 9 AZR 98/14). So reicht die zeitliche und örtliche Bindung für eine — rechtliche — Einbindung in die Organisation des Zirkus nicht aus. Die diesbezüglichen Weisungen der Beklagten beziehen sich auf den im Vertrag beschriebenen Vertragsgegenstand, die Darbietung von Zirkusnummern, die naturgemäß nur im Rahmen einer Zirkusvorstellung aufzuführen sind. Auch die Bindung der Artisten an die von der Beklagten zur Verfügung gestellte Aufführungsstätte gibt keinen Aufschluss über die persönliche Abhängigkeit der Artisten, wenn der Arbeitsort – wie hier – für die Tätigkeit typisch sei.
2. Fälle aus der Praxis
IT — Systemspezialist/in
Ein Dienstleister setzt eine „Systemspezialistin“ bei einem Kundenprojekt ein. Die Tätigkeit umfasst die „Unterstützung des Teams „System Build“ im Bereich AIX/LINUX-Projekt Planet.“ Die Spezialistin kann selbst entscheiden, welche von verschiedenen Arbeitspaketen sie übernimmt, die ein Projektleiter anbietet. Dadurch kann sie den Umfang ihrer Tätigkeit und die zeitlichen Rahmenbedingungen selbst steuern. Zwar erhält sie aus Sicherheitsgründen von der Kundin ein Leihgerät, mit dem sie nicht nur die planerischen, sondern auch die technischen Arbeiten remote durchführt. Sie ist in der Regel nicht vor Ort beim Kunden tätig und muss auch nicht an Team-Meetings teilnehmen. Soweit im Rahmen ihrer Tätigkeit Absprachen mit anderen Team-Mitgliedern etwa im Bereich technischer Schnittstellen erforderlich sind, erfolgen diese auf gleichberechtigter Ebene und werden nicht durch einen Projektleiter vorgegeben.
Hier haben die Parteien im Sinne einer Selbstständigkeit alles richtig gemacht. Dass die die Arbeiten nach freiem Ermessen von ihrem Home-Office oder am Betriebssitz der Kundin in Frankfurt vornehmen konnte und nicht an Meetings teilnehmen musste, wertete das Gericht als wesentlich für die Selbstständigkeit (LSG Baden-Württemberg 18.5.2015 – L 11 R 4586/12).
Abrechner/in für Arzthonorare
Eine Abrechnerin für Arzthonorare gegenüber Krankenkassen nimmt für verschiedene Arztpraxen die jeweiligen Honorarabrechnungen in den Praxisräumen vor. Diese erfordern erhebliche Kenntnisse im ärztlichen Gebührenrecht, über die die Abrechnerin im Gegensatz zu den sie beauftragenden Ärzten im Detail verfügt. Aus Datenschutzgründen ist es geboten, die Tätigkeit ausschließlich vor Ort in den Arztpraxen durchzuführen. Anwesenheitszeiten kann sich die Abrechnerin weitgehend frei einteilen, sie muss nur innerhalb der Abrechnungszeiträume alle notwendigen Abrechnungen durchführen.
Das Datenschutzargument ließ das Sozialgericht erster Instanz (SG Berlin 27.2.2014 – S 81 KR 1278/12) noch als wesentliches Kriterium für eine Selbstständigkeit trotz Ortsanwesenheit der Abrechnerin ausreichen. Zwar spreche für eine abhängige Beschäftigung, dass sie ausschließlich in den Räumen der Praxis und mit deren Betriebsmitteln tätig und damit in gewisser Weise in den Betrieb der Praxis eingegliedert gewesen sei. Jedoch sei diese Arbeit vor Ort äußeren Zwängen gefolgt. Eine Arztpraxis sei verpflichtet, in besonderer Weise Patientendaten zu schützen und könne nur in sehr begrenzten Umfang nach Einwilligung der Versicherten Leistungsdetails an private Dienstleistungsunternehmen versenden“ (SG Berlin 27.2.2014 – S 81 KR 1278/12). Anders jedoch das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg als Berufungsinstanz, das eine Versicherungspflicht infolge der Eingliederung annahm:
Bereits die Vereinbarung von Dienstleistungen und nicht von Werkleistungen und deren Abrechnung nach Stunden und nicht nach den Werken (z. B. nach erstellten Abrechnungen) ist ein Indiz für eine vertragliche Bindung auf Basis abhängiger Beschäftigung. Nach der Vereinbarung sollte die Arbeit in den Räumen der Praxis unter Verwendung des dortigen Equipments (insbesondere PC) erfolgen. Die Tätigkeiten sollten sich insoweit grundsätzlich von denen einer (privatärztlichen) Abrechnungsstelle unterscheiden, die — ähnlich wie z. B. auch Steuerberater oder Rechtsanwälte — in eigenem Namen in Vollmacht den Patienten Rechnungen erteilen. ….
In der praktischen Umsetzung der mündlichen Vereinbarung stellte sich die Tätigkeit der Beigeladenen als in den Praxisbetrieb integriert dar. Die Arbeit fand in der Praxis und unter Verwendung der dortigen Hard- und Software statt. Die Mitarbeiterin erstellte die Rechnungen, Mahnungen und Abrechnungen nicht wie eine privatärztliche Abrechnungsstelle in eigenem Namen. Sie trat vielmehr im Außenverhältnis nicht in Erscheinung. Ihre Arbeitsergebnisse stellten sich für die Praxisinhaberinnen als Entwürfe dar.
Dass die Mitarbeiterin aufgrund von datenschutzrechtlichen Bestimmungen zum Schutz der Patientendaten in der Praxis tätig sein musste, spricht auch nicht gegen eine Weisungsgebundenheit im Sinne einer funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess. Im Ergebnis führt diese Pflicht faktisch zu einer Einordnung in den Praxisbetrieb. (LSG Berlin-Brandenburg 29.1.2016 – L 1 KR 118/14)
SEM — Berater/in
Den rechtlichen Status von SEO-Managern oder auch SEM-Beratern hatte das SG Berlin (SG Berlin 5.7.2016 – S 208 KR 1198/15 sowie S 208 KR 1197/15) jüngst zu bewerten. SEO-Manager befassen sich mit der Optimierung von Suchmaschineneinträgen und ‑ergebnissen („Search Engine Optimization“) in der organischen Suche, während Ziel des SEM (Search Engine Marketing) die Verbesserung der Sichtbarkeit innerhalb der Ergebnislisten der gekauften Werbeeinblendungen ist.
Der SEM-Berater ist für einen Betreiber von Shopping- und Gutschein-Internetportalen von verschiedenen Arbeitsorten aus tätig, überwiegend aus seinem Homeoffice. Er hält sich an ein bis zwei Stunden in der Woche zwar auch in den Räumen seiner Auftraggeberin auf, dies geschieht jedoch lediglich dazu, um deren Mitarbeiter in die entsprechenden Techniken einzuführen und zu schulen. Er erhält von seiner Auftraggeberin keine Einweisung oder sonstige Vorgaben, auch nicht hinsichtlich der Verteilung und des Umfangs seiner Arbeitszeit oder der Wahl seines Arbeitsortes. Die Vorgaben seitens der Auftraggeberin beschränken sich auf die Angaben des zur Verfügung stehenden monatlichen Budgets sowie die Benennung der zu bewerbenden Produkte. Die Festlegung des Tagesbudgets, das für die Anzeigen insbesondere bei Google verwendet wird, geschieht allein durch den Kläger. Er legt auch die „Keywords” fest, bei deren Eingaben in Google oder anderen Suchmaschinen auf Anzeigen der Auftraggeberin verwiesen werden sollte.
Aufgrund der Expertise des Klägers sind Weisungen der Auftraggeberin weder geboten noch mangels entsprechenden Fachwissens der Auftraggeberin möglich. Die Auftraggeberin überprüft lediglich den Erfolg der Tätigkeit, nämlich die Klicks und Umsätze.
Das genügte dem Gericht für die Annahme von Selbstständigkeit. Die Haupttätigkeit des Beraters, die Suchmaschinenoptimierung selbst, erfüllte wesentliche Merkmale einer Selbstständigkeit. Die Schulungen in den Räumen der Auftraggeberin waren eher unbedeutende Nebentätigkeiten, zumal sie in nur geringem Umfang stattgefunden hatte, die die Versicherungsfreiheit nicht beeinträchtigen können. (SG Berlin v. 5.7.2016 – S 208 KR 1197/15)
3. Tätigkeit in Räumen des Auftraggebers – Worauf ist zu achten?
Da Gerichte das Kriterium der Einbindung als wesentlich für die Frage der Selbstständigkeit ansehen, ist bei allen Tätigkeiten in Räumen des Auftraggebers generell besondere Zurückhaltung anzuraten. Eine Vor-Ort-Tätigkeit darf nur stattfinden, wenn diese aus Gründen, die außerhalb einer Ausübung des Direktionsrechts oder einer gewünschten Einbindung in die betrieblichen Strukturen liegt, geboten ist. Dabei gilt:
- Kann die selbstständige Tätigkeit aus tatsächlichen Gründen nur vor Ort ausgeübt werden, etwa weil sich zu verarbeitende Gegenstände, ein Zirkus, Publikum, Schüler, Baustellen, Patienten etc. dort befinden, dann ist dies rechtlich neutral zu bewerten und spricht allein nicht gegen eine Selbstständigkeit. Artisten, Reparaturtrupps und Bauleiter können also problemlos in den Räumen des Auftraggebers tätig sein. Hier muss nur darauf geachtet werden, dass sich die Eingliederung nicht aus anderen Merkmalen wie einer tatsächlichen Weisungsbindung, funktionellen Teilhabe etc. ergibt.
- Erfordert die Tätigkeit die Anwesenheit gerade nicht, sondern nur die Bequemlichkeit im Hinblick auf Arbeitsteilung, Abstimmungen etc., z.B. bei Übersetzern und Programmierern, ist die Anwesenheit im Sinne einer Eingliederung extrem gefährlich und sollte vermieden werden. Werden Teilleistungen dennoch vor Ort erbracht, muss weiter gefragt werden, welche sonstigen Gründe für die Selbstständigkeit der Tätigkeit vor Ort sprechen. Abstimmungen, Koordinationsleistungen oder Nebentätigkeiten sind möglich, Weiteres in der Regel nicht.
- Ist die Anwesenheit aus rechtlichen Gründen (Datenschutz) oder zur Erfüllung von Geheimhaltungsinteressen des Auftraggebers erforderlich, ist das eher das Problem des Auftraggebers und als Indiz gegen eine Selbstständigkeit zu werten. Wird im Rahmen der Anwesenheit faktisch ein Weisungsrecht ausgeübt, helfen rechtliche Verpflichtungen nicht zur Annahme der Selbstständigkeit.
- Ist die Vor-Ort-Tätigkeit Teil einer Strategie (so zum Beispiel beim agilen Programmieren) sollte noch immer auf eine strikte Abgrenzung der selbstständig Tätigen von den Arbeitnehmern des Auftraggebers geachtet werden. Das bedeutet, dass diese möglichst in getrennten Räumen mit getrennter Infrastruktur tätig sind, keine Tätigkeiten ausüben, die zeitgleich von Arbeitnehmern des Auftraggebers ausgeübt werden und schließlich nicht in gemischten Teams mit Arbeitnehmern des Auftraggebers arbeiten. Der „Scrum-Master“ selbst, der nur koordiniert, ist in der Theorie unproblematisch. Wenn praktisch allerdings Einzelweisungen erteilt werden, ist die Grenze zur unselbstständigen Tätigkeit überschritten (vgl. dazu auch LAG Baden-Württemberg 1.8.2013 — 2 Sa 6/13).