Nationale Gerichte können Entsendebescheinigungen außer Acht lassen, wenn diese in betrügerischer Weise ausgestellt worden sind.

Sachverhalt

Arbeit­nehmer wer­den oft in das Aus­land mit ein­er A1-Bescheini­gung entsandt (früher E‑101), mit der Folge, dass das Sozialver­sicherungsrecht des Heimat­staates gilt. Oft­mals wer­den diese Bescheini­gun­gen jedoch rechtswidrig aus­gestellt, ohne dass die in den ein­schlägi­gen Verord­nun­gen für deren Ausstel­lung bes­timmten Anforderun­gen erfüllt sind. Dazu gehört, dass das entsendende Unternehmen seine Tätigkeit zu min­destens 25% im Inland ausübt und dass der Arbeit­nehmer in diesem Staat zuvor ver­sicherungspflichtig beschäftigt war (vgl. Art. 14 Abs. 8 VO (EG) 987/2009). Auch fehler­haft aus­gestellte Entsendebescheini­gun­gen führten nach bish­eriger Recht­sprechung den­noch dazu, dass auss­chließlich das Sozialver­sicherungsrecht des Entsendestaates galt.

So war es auch im vor­liegen­den Fall: Eine im Bausek­tor in Bel­gien tätige Gesellschaft ließ Arbeit­en auf ihren Baustellen auss­chließlich durch bul­gar­ische Sub­un­ternehmer aus­führen, die ihre Arbeit­nehmer nach Bel­gien entsandten. Eine Anmel­dung bei dem bel­gis­chen Sozialver­sicherungsträger unterblieb, da die einge­set­zten Arbeit­nehmer Entsendebescheini­gun­gen E 101 bzw. heute „A 1“ besaßen, die von der zuständi­gen bul­gar­ischen Behörde gemäß Art. 11 Abs. 1 der EG-Verord­nung Nr. 574/72 aus­gestellt wor­den waren.

Unter­suchun­gen ergaben jedoch, dass diese bul­gar­ischen Unternehmen in Bul­gar­ien keine nen­nenswerte geschäftliche Tätigkeit ausübten, weshalb das Ausstellen der Bescheini­gun­gen rechts­fehler­haft erfol­gte. Dies nahm die bel­gis­che Sozialauf­sichts­be­hörde zum Anlass, beim zuständi­gen bul­gar­ischen Träger einen Antrag auf erneute Prü­fung oder Wider­ruf der Bescheini­gun­gen zu stellen, der jedoch unter Hin­weis auf eine sein­erzeit erfol­gte formell ord­nungs­gemäße Prü­fung („admin­is­tra­tiv“) abgelehnt wurde, ohne die von den bel­gis­chen Behör­den fest­gestell­ten und bewiese­nen Tat­sachen in dieser Antwort zu berücksichtigen.

Die bel­gis­chen Behör­den leit­eten gegen die Beteiligten daraufhin Strafver­fahren wegen Sozialver­sicherungs­be­truges ein. Prob­lema­tisch daran war jedoch die bis­lang ent­ge­gen­ste­hende Recht­sprechung des EuGH, wonach Entsendebescheini­gung für nationale Behör­den bindend und der ausstel­lende Träger auss­chließlich zuständig seien (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Jan­u­ar 2006, Her­bosch Kiere, C‑2/05, sowie EuGH v 27.4.2017, A‑Rosa-Flusss­chiff, C 620/15).

Deshalb legte der bel­gis­che Kas­sa­tion­s­gericht­shof dem EuGH die Frage zur Entschei­dung vor, ob eine E‑101-Bescheini­gung, die formell ord­nungs­gemäß aus­gestellt wurde, von einem anderen Gericht als dem des Entsendestaats für nichtig erk­lärt oder außer Acht gelassen wer­den könne, wenn Ermit­tlun­gen ergeben hät­ten, dass die Bescheini­gung betrügerisch erwirkt wurde.

Entscheidung

Der EuGH entsch­ied, dass nationale Gerichte in betrügerisch­er Absicht aus­gestellte oder erwirk­te Entsendebescheini­gun­gen außer Acht lassen und sämtliche han­del­nde Per­so­n­en auf der Grund­lage des anwend­baren inner­staatlichen Rechts zur Ver­ant­wor­tung ziehen dürfen.

Eine Entsendung kann nur unter zwei (wesentlichen) Voraus­set­zun­gen erfol­gen:  Die erste ver­langt, dass zwis­chen dem Unternehmen und dem Arbeit­nehmer während der Dauer sein­er Entsendung eine arbeit­srechtliche Bindung erhal­ten bleibt. Die zweite ver­langt, dass das Unternehmen in diesem Mit­glied­staat gewöhn­lich eine nen­nenswerte Geschäft­stätigkeit ausübt. Als Beleg hier­für dient die Entsendebescheini­gung. In dieser erk­lärt der zuständi­ge Träger des Staates, in dem das entsendende Unternehmen seine Betrieb­sstätte hat, dass sein eigenes Sozialver­sicherungssys­tem auf diese Arbeit­nehmer anwend­bar bleibt. Folge ist, dass die Behör­den im Tätigkeitsstaat an diese Fest­stel­lun­gen gebun­den sind.

Allerd­ings muss der Träger, der die Bescheini­gung aus­gestellt hat, über­prüfen, ob die Ausstel­lung zu Recht erfol­gt ist, und die Bescheini­gung gegebe­nen­falls zurückziehen, wenn Zweifel an der Richtigkeit des der Bescheini­gung zugrunde liegen­den Sachver­halts bestehen.

Legt also der Träger des Tätigkeitsstaates dem Träger, der die Bescheini­gun­gen aus­gestellt hat, konkrete Beweise vor, die den Schluss zulassen, dass die Bescheini­gun­gen betrügerisch erlangt wur­den, hat der ausstel­lende Träger anhand dieser Beweise erneut zu prüfen, ob die Ausstel­lung zu Recht erfol­gt ist, und die Bescheini­gun­gen gegebe­nen­falls zurück­zuziehen. Nimmt der ausstel­lende Träger diese Über­prü­fung nicht inner­halb ein­er angemesse­nen Frist vor, dür­fen diese Beweise im Rah­men eines gerichtlichen Ver­fahrens gel­tend gemacht wer­den, um zu erre­ichen, dass das Gericht des Tätigkeitsstaates die betr­e­f­fend­en Bescheini­gun­gen außer Acht lässt. In dem Aus­gangsver­fahrens waren diese Voraus­set­zun­gen erfüllt, so dass die bel­gis­chen Gerichte die betr­e­f­fend­en Bescheini­gun­gen außer Acht lassen kon­nten und die betrügerisch han­del­nden Per­so­n­en zur Ver­ant­wor­tung ziehen konnten.

Konsequenzen

Der EuGH hat am 6. Feb­ru­ar 2018 - C‑359/16 (Altun u.a.) entsch­ieden, dass im Aus­land aus­gestellte A1-Entsendebescheini­gun­gen für nach Deutsch­land entsandte Arbeit­nehmer ihre bish­erige „Garantiewirkung“ ver­lieren und von deutschen Behör­den angezweifelt wer­den kön­nen. Erfreulich daran ist die damit deut­lich effek­ti­vere Möglichkeit, Sozial­dump­ing durch Ein­satz aus­ländis­ch­er, nicht in Deutsch­land sozialver­sicherungspflichtiger Arbeit­nehmer zu bekämpfen. Bedauer­lich ist hinge­gen der mit dem Urteil ein­herge­hende Ver­lust an Rechtssicher­heit. Kon­nte ein Auf­tragge­ber sich bish­er bei Vor­liegen von Entsendebescheini­gun­gen auf deren Richtigkeit ver­lassen und somit eine straf- oder sozialver­sicherungsrechtliche Haf­tung defin­i­tiv auss­chließen, brechen durch die Über­prüf­barkeit der Bescheini­gun­gen nun unruhigere Zeit­en an. So muss jed­er Arbeit­ge­ber zukün­ftig fest­stellen, ob auch die materiellen Voraus­set­zun­gen der Bescheini­gung (weit­er­hin beste­hende Bindung zu dem aus­ländis­chen Sub­un­ternehmers und nen­nenswerte Tätigkeit des Sub­un­ternehmers im Aus­land) tat­säch­lich vor­liegen. Anderen­falls dro­hen die Ver­wirk­lichung von Straftatbestän­den und Nachzahlun­gen bei Betrieb­sprü­fun­gen, wenn sich im Nach­hinein eine Beitragspflicht zu deutschen Sozial­sys­te­men ergibt.

Zwar beste­ht die Über­prü­fungs- und Kor­rek­tur­möglichkeit der Bescheini­gun­gen zwis­chen den Sozialver­sicherungsträgern, die jedoch auch eine rück­wirk­ende Haf­tung nicht immer beseit­i­gen wird. 

Praxistipp:

Jeden­falls eine Über­prü­fung, dass das entsendende Unternehmer keine „Briefkas­ten­fir­ma“ ist (also min­destens 25% sein­er Tätigkeit­en im Heimat­staat ausübt) und die zuvor sozialver­sicherungspflichtige Beschäf­ti­gung des Arbeit­nehmers dort wer­den zukün­ftig uner­lässlich sein.

RA Jörg Hennig

Berlin